Lichtschlag Bücher

Leseprobe: Wer ist Ron Paul? (restlos ausverkauft / aus dem Programm genommen)

Der alte Mann und das Internet

    Am 20. November 2007 notierte Lew Rockwell, Pauls früherer Büroleiter in Washington, auf seinem Blog: „Hier ist ein Geheimnis über unsere Herrscher: Praktisch kein leitender Bürokrat in [Washington] DC ist online, genauso wie keiner von ihnen zu ihrer Zeit auf den Gedanken gekommen wäre, die Tastatur einer Schreibmaschine zu berühren. Dafür sind Sekretärinnen da, denken unsere erbsengehirnigen Dinosaurier. Das trifft auch auf die Repräsentanten und Senatoren der USA zu (Ron Paul ist eine der wenigen Ausnahmen). Besonders seit der Geldbombe [vom 5.11.2007] wird Ron im Parlamentssaal von führenden Kongressabgeordneten angesprochen. Vor kurzem wurde er zum ersten Mal gebeten, vor einer Versammlung der Büroleiter der republikanischen Kongressabgeordneten zu sprechen. Sie hatten dieselben Fragen wie die Abgeordneten: Welche Firma haben Sie mit der Erhebung dieses Geldes beauftragt? Welcher Wahlkampfstratege hat das für Sie geplant? Welche mysteriöse Technologie verwenden Sie? Die Prämisse ist: Wenn Ron nur auspacken würde, könnte auch jeder andere Kongressabgeordnete eine so hohe Spendensumme sammeln. Unsere völlig weggetretenen Herrscher in DC fürchten das Internet, und mit Recht. Und ihre Unwissenheit darüber, und über die sich ihnen nähernde Ron Paul Revolution, ist monumental. Was sind jene fernen Geräusche? Mag Ludwig XVI. Marie Antoinette gefragt haben.“

    Ron Paul ist nicht der erste Präsidentschaftskandidat der USA, dem „das Internet“ zur Hilfe geeilt ist. Dieser Titel gebührt Howard Dean, der vier Jahre zuvor Ambitionen auf die Kandidatur der Demokraten hatte. Wie Paul war auch Dean ein entschiedener Gegner des Irakkrieges, während die anderen demokratischen Kandidaten sich entweder neutral verhielten oder vorsichtige Zustimmung signalisierten. Wie 2007 bei Ron Paul war dies der primäre Grund für viele junge Menschen, Dean zu unterstützen. Wie Paul wurden Dean anfangs wenig Chancen eingeräumt. Dean bekam jedoch frühzeitig mehr Raum in den alten Medien als Paul und stieg in den Umfragen schnell zur Favoritenposition auf. Doch dass die Medien nicht seine Freunde waren, zeigte sich nach der ersten Vorwahl in Iowa, wo er einen etwas enttäuschenden dritten Platz erreicht hatte (Umfrageergebnisse hatten zuvor einen ersten Platz vorausgesagt). In einer Dankesrede vor frenetischen Fans verlor Dean ein wenig die Beherrschung und jubelte lautstark ins Mikrophon. Da dieses die umliegenden Geräusche herausfilterte, machte Dean, der einen hochroten Kopf und seine Ärmel aufgekrempelt hatte, in dem Augenblick einen sehr unpräsidialen Eindruck. Sender wie beispielsweise CNN wiederholten diese Szene oft und genüsslich. Laut Wikipedia wurde die Szene von den Fernsehsendern in nur vier Tagen geschätzte 633 Mal gezeigt, „eine Zahl, die nicht die Talkshows und regionalen Nachrichtensendungen einbezieht.“ Das war nicht das einzige Malheur, das der Kampagne Deans widerfuhr, aber das erste große. Und der Anfang vom Ende seiner schließlich gescheiterten Kampagne.

    Es ist schwer vorstellbar, dass dem immer beherrscht wirkenden Gentleman Paul so etwas wie ein „Dean Scream“ entfahren würde. Ohne Zweifel haben jedoch die alten Medien nur auf eine peinliche Szene Pauls gewartet, die sie ausschlachten können. Doch anders als bei Dean würden die Medien diesmal möglicherweise weniger Erfolg haben. Und zwar aus inhaltlichen wie aus technischen Gründen. Der inhaltliche Grund ist der, dass Deans Popularität allein auf seiner Kriegsgegnerschaft fußte. In allen anderen Punkten war er kaum von seinen Rivalen bei den Demokraten zu unterscheiden. Dagegen fußen alle Standpunkte Pauls auf dem Prinzip der strikten Einhaltung der Verfassung, was auf einen minimalistischen Staat hinausläuft. Im Vergleich zu allen anderen Kandidaten beider großer Parteien ist das ein nahezu revolutionärer Standpunkt. Der aber bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung auf tiefe Resonanz stößt. Außerdem war Anfang 2004 der Krieg in Amerika zwar schon umstritten, aber noch lange nicht so unpopulär wie 2007/08. Und: Die Demokraten hatten ihre Chance im Jahr 2006, als sie mit Antikriegsparolen die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses eroberten. Seitdem hat sich nichts getan, und die Wählerschaft ist tiefer von der Politik enttäuscht als je zuvor. Einen Darstellungsfehler würden Unterstützer des Anti-Establishment-Kandidaten Pauls, der 30 Jahre lang in Wort und Tat Prinzipienfestigkeit bewiesen hat, heute daher eher verzeihen als damals Dean.

    Noch wichtiger ist womöglich der technische Grund. Deans Internet-Unterstützung bestand aus sogenannten „Bloggern“ und Frequentierern von Internet-Diskussionsforen, die auf diesen Plattformen und mittels E-mail-Listen in Kontakt blieben. Das war zwar sehr praktisch und kosteneffizient, konnte aber nicht wirklich gegen die Macht des bewegten Bildes auf der Mattscheibe konkurrieren. Seit 2004 hat sich in dieser Hinsicht etwas Grundlegendes getan. Dank technischen Fortschritts im Datenflussbereich können inhaltsreiche Dateien wie beispielsweise Filme von vielen Menschen problemlos auf den Heim-PC herunter- und heraufgeladen werden. Eine der populärsten Websites ist daher inzwischen YouTube.com, eine im Jahr 2005 gegründete Plattform, wo jeder seine digitalen Kurzvideos kostenlos veröffentlichen kann. Und es gibt die sozialen Netzwerke wie MySpace und Facebook, die auch mit Bildern arbeiten. Schließlich gibt es die Meetup-Gruppen, von denen noch die Rede sein wird. Es sind die dort verlinkten Videos und Bilder, die viele Menschen erstmals auf Paul aufmerksam machten. Trevor Lyman, der Organisator der „Geldbombe“ vom 5. November, stieß auf Paul, als er im Sommer 2007 beim Suchen nach Gitarrenstücken auf MySpace feststellte, dass immer mehr Mitglieder ihr Erkennungsbild durch ein Bild eines alten, ihm unbekannten Politikers ersetzten. Fasziniert von diesem Phänomen entschloss sich der bisherige Nichtwähler, dieser Sache auf den Grund zu gehen. So oder ähnlich erfuhren viele erstmals von Ron Paul. Es ist also durchaus denkbar, dass ein Versuch der alten Medien, Paul schlecht aussehen zu lassen, mit Internet-Videos erfolgreich gekontert werden könnte.

    Trotz seines Scheiterns hatte Deans Wahlkampf auf andere Politiker einen sehr großen Eindruck gemacht, schrieb Matt Bai am 9. Dezember 2007 in der New York Times. „Die Kandidaten von 2008 hatten die Vision, dieses Modell zu kopieren – ohne den Zusammenbruch. Einer der ersten Schritte, die sie unternahmen, war das Anheuern einer neuen Klasse von Online-Organisatoren und Spendenbeschaffern.“ Sie hatten offenbar das Wesentliche der Neuartigkeit des Deanschen Wahlkampfes übersehen: Er war nicht von oben organisiert, sondern spontan von unten entstanden.

    „Nun, am Ende eines turbulenten politischen Jahres,“ fuhr Bai fort, „scheint klar zu sein, dass die Kandidaten und ihre Berater die falschen Lehren aus der Dean-Episode gezogen haben, oder zumindest eine ihrer wesentlichen Tatsachen nicht verstanden haben, nämlich dass diese Dinge nicht wirklich orchestriert werden können. Deans Wahlkampf explodierte nicht deswegen im Internet, weil er irgendwie eine Methode der Kanalisierung der Onlinepolitik ausgeklügelt hatte; sein Kunststück gelang ihm, weil seine Kampagne, fast zufällig, von Menschen kanalisiert wurde, die er nie getroffen hatte. Dean for America wurde, von der Kernaussage gegen den Krieg bis hinunter zum Design der Autoaufkleber und Anstecknadeln, von laptopbeladenen Freiwilligen geprägt, und diese Fremden, so konnte man sagen, bauten den Kandidaten ebenso auf wie sie ihn zu Fall brachten. In der neuen und sich entwickelnden Onlinewelt geht die größte Hebelwirkung nicht an den Kandidaten mit dem detailliertesten Plan zur Eroberung des Webs, sondern an jenen Kandidaten, der sein eigenes Image an die klickenden Massen übergibt, etwa wie ein Rockgitarrist sich rückwärts von der Bühne in die Hände seiner ihn anbetenden Fans fallen lässt.“

    Bai glaubt, dass die bemerkenswerte Onlinewoge an Unterstützung für Ron Paul nicht anders erklärt werden kann. „Im Gegensatz zu seinen Hauptrivalen hatte Paul nicht die Ressourcen für den Aufbau einer ausgefeilten Webkampagne, aber Antikriegs- und Antistaatsausgaben-Republikaner haben es gerne für ihn getan.“ Während Paul ohne sein eigenes Zutun am 5.11.2007 mehr als 4 Millionen Dollar einsammeln konnte, so Bai, „fanden sich jene Kandidaten, die ganze Räume voll von gutbezahlten Onlineexperten aufgehäuft hatten, oft von mysteriösen Kräften jenseits ihres Zugriffes hin- und hergeschleudert oder in Verlegenheit gebracht (oder manchmal beides). Man nehme beispielsweise das weitverbreitete Musikvideo ‚Obama Girl‘, hergestellt von einer 21-jährigen Studentin. ... Dieses Video hatte, mehr oder weniger gerechtfertigterweise, mehr mit der Gestaltung von Obamas kompliziertem öffentlichen Image zu tun – jung und aufregend, aber vielleicht ein wenig seicht – als irgendein von den eigenen Assistenten des Kandidaten ersonnener Appell.“ Solche Entwicklungen seien für viele in der Welt der Wirtschaft keine Überraschung, stellte Bai fest, denn diese habe vor Jahren verstanden, dass das Internet nicht einfach ein weiteres Massenmedium darstellte, mit dem man spielen konnte, sondern auch eine fundamentale Verschiebung der einst statischen Beziehung zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten. Es sei von Natur aus ein Teilnahmemedium, in dem die Konsumenten einen viel persönlicheren Anteil an den von ihnen konsumierten Produkten verlangen.

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